INTERVIEW mit Sam Thorne

Germanwings Flug 9525: Die bequemen Toten

(publiziert im englischen Original auf:  https://substack.com/home/post/p-174743507 )

 

1. Sam, kannst du uns bitte etwas über deinen Weg bis hierher erzählen? Was hat dich ursprünglich dazu gebracht, den Absturz des Germanwings-Flugs 9525 zu untersuchen, und wie kam es dazu, dass du über diese Tragödie geschrieben hast?

Sam Thorne: Ich hatte ursprünglich überhaupt nicht vor, ein Buch über einen Flugzeugabsturz zu schreiben. Tatsächlich habe ich mich jahrelang dagegen gewehrt. Doch als Journalist:in habe ich mich über Jahrzehnte hinweg mit Geschichten beschäftigt, die zeigen, wie Systeme versagen – in der Politik, in der Luftfahrt, im Verteidigungsbereich oder in den Geheimdiensten – und wie schnell solche Versäumnisse vertuscht werden.

Als Flug 9525 im März 2015 abstürzte, erschien mir die Geschwindigkeit und Einfachheit der offiziellen Erklärung zutiefst fragwürdig. Innerhalb von nur 48 Stunden wurde der Welt mitgeteilt, es handle sich um die Tat eines selbstmordgefährdeten Piloten – Fall abgeschlossen. Doch die zwei Jahre später vorgelegten Beweise stimmten nicht mit dieser Schlussfolgerung überein. Diese Diskrepanz konnte man unmöglich ignorieren.

Während meiner eigenen Recherchen kam ich mit einem Kollegen in Kontakt – dem investigativen Journalisten Tim van Beveren –, der mir großzügig seine umfangreichen Ermittlungsunterlagen zur Verfügung stellte, darunter mehr als 17.000 Seiten offizieller Akten deutscher und französischer Justizbehörden. Ich bin ihm dankbar, dass er mir später sogar die Infrastruktur seines eigenen Medienunternehmens zur Verfügung stellte, um die Veröffentlichung von Silent Skies zu ermöglichen.

Was also als einfacher Faktencheck begann, entwickelte sich zu einer mehrjährigen Untersuchung – und mündete schließlich in dem Roman Silent Skies.

 

 

2. Könnten Sie für Leser:innen, die vielleicht nur die offizielle Darstellung kennen, kurz zusammenfassen, was der Öffentlichkeit über die Ereignisse vom 24. März 2015 erzählt wurde und was Ihre Recherchen ergeben haben?

Sam Thorne: Die offizielle Version ist einfach: Der Copilot soll seinen Kapitän aus dem Cockpit ausgesperrt und den Airbus A320 absichtlich gegen einen Berg geflogen haben, wobei alle 150 Menschen an Bord ums Leben kamen. Dies wurde als tragischer Fall unbehandelter Depression dargestellt.

Diese Darstellung entsprach exakt der Version, die der französische Staatsanwalt Brice Robin nur zwei Tage nach dem Absturz präsentierte – und die sein deutscher Kollege Christoph Kumpa in den folgenden Wochen weiter bekräftigte: Wir haben eine „einfache“ Erklärung und einen Schuldigen, der sich nicht mehr verteidigen kann – eine ideale Sündenbockfigur, auf die sich öffentliche Empörung und institutionelle Verantwortung projizieren lassen: ein psychisch kranker Copilot, der 149 unschuldige Menschen getötet hat. Und weil er tot ist, müssen wir diese Behauptung nicht einmal vor Gericht beweisen.

Diese Erklärung wurde trotz zahlreicher offener Fragen kaum ernsthaft hinterfragt. Schlimmer noch: Sie entwickelte sich zu einer hartnäckigen Bestätigungsverzerrung, die nicht nur die laufende zivile Unfalluntersuchung vergiftete, sondern auch die mediale Berichterstattung prägte.

Was mein Roman Silent Skies präsentiert, ist jedoch nicht allein das Ergebnis meiner eigenen Recherchen. Ein Großteil basiert auf den akribischen Untersuchungen und Expertenanalysen meines Kollegen van Beveren, dessen evidenzbasierter Bericht zwei Jahre nach dem Absturzveröffentlicht wurde.

Nach einer Pressekonferenz im März 2017 meldeten sich weitere Quellen – darunter Ingenieure und eine Person, die offenbar Zugang zu den Wartungsunterlagen des Flugzeugs hatte, welche van Beveren sogar über einen Mittelsmann zum Kauf angeboten wurden. Er erzählte mir, dass er dies selbstverständlich abgelehnt habe, da eine solche Transaktion gegen grundlegende journalistische Ethik verstoßen und eine Straftat darstellen würde.

Ein Elektroingenieur mit fundierten Kenntnissen komplexer Systeme legte jedoch eine detaillierte technische Analyse vor, in der er ein Schlüsselelement der offiziellen BEA-Ergebnisse infrage stellte: die Behauptung, der Copilot habe seine späteren Handlungen bereits auf dem Hinflug nach Barcelona „geübt“, während der Kapitän nicht im Cockpit war. Nach Ansicht dieses Experten zeigen die vom Flugdatenschreiber aufgezeichneten Amplitudenmuster ein ganz anderes Bild: Sie deuten stark darauf hin, dass die während dieses Fluges vorgenommenen Höheneingaben keineswegs absichtliche Handlungen waren, sondern das Ergebnis einer technischen Fehlfunktion – möglicherweise eines Kurzschlusses –, die der Pilot aktiv korrigierte.

Diese Hypothese wurde später in einer dreiteiligen Fernsehdokumentation bestätigt, die Anfang dieses Jahres auf SKY ausgestrahlt wurde. Darin konnte das beschriebene Fehlfunktionsszenario unter kontrollierten Bedingungen mit einer originalen Flugsteuerungseinheit (FCU) eines Airbus A320 erfolgreich demonstriert werden. Dies wirft erhebliche Zweifel an der zentralen Schlussfolgerung der Staatsanwaltschaft und der BEA auf, wonach der Absturz ausschließlich auf vorsätzliches Handeln zurückzuführen sei – und legt nahe, dass entscheidende technische Faktoren entweder missverstanden, ignoriert oder bewusst heruntergespielt wurden.

Diese beiden Beispiele sind nur Teile eines größeren Puzzles, das meiner Meinung nach ein weitaus komplexeres Bild offenbart: möglicherweise Manipulationen von Flugschreibern, deutliche Unstimmigkeiten bei den aufgezeichneten und transkribierten Cockpit-Audioaufnahmen, medizinische Beweise, die der Selbstmordthese widersprechen, und übersehene technische Anomalien.

Nicht zuletzt ist es bei jeder modernen Flugunfalluntersuchung zwingend, menschliche Faktoren als entscheidendes Element einzubeziehen. Anhang 13 des ICAO-Rahmenwerks und seine nationalen Umsetzungen schreiben ausdrücklich die Einrichtung einer speziellen Arbeitsgruppe für menschliche Faktoren vor. Doch obwohl dieser Fall praktisch nach einer solchen Analyse „schrie“, wurde nie eine entsprechende HF-Gruppe gebildet. Der von der BEA benannte Experte für menschliche Faktoren – ein Arzt – wurde nie sinnvoll eingebunden, und sein deutscher Kollege, ein Psychologe, der gemeinsam mit zwei deutschen Universitäten eine Studie über Selbstmord bei Piloten verfasst hatte, war ebenfalls nicht aktiv beteiligt.

Stattdessen wurde – quasi als Alibi-Maßnahme – eine kleine Auswahl der von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmten medizinischen Unterlagen zwei externen Experten ohne Luftfahrthintergrund zur Prüfung übergeben. Beide erklärten anschließend, dass sie auf Grundlage der ihnen vorliegenden begrenzten Unterlagen „nicht in der Lage“ seien, eine verlässliche psychologische Beurteilung des Copiloten abzugeben.

Diese Häufung von Versäumnissen im Verlauf der Untersuchung deutet tatsächlich entweder auf „erschütternde Inkompetenz oder auf vorsätzliche Täuschung“ hin – wie Sie es so treffend in Ihrer Buchbesprechung formuliert haben.

Ja, es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Untersuchung darauf ausgerichtet war, institutionelle Interessen – von Herstellern über Fluggesellschaften bis hin zu Aufsichtsbehörden – zu schützen, statt die ganze Wahrheit aufzudecken, sofern dies nicht von den zuständigen Behörden umfassend erklärt und belegt wird.

 

 

3. Die offizielle Version wurde bemerkenswert schnell veröffentlicht – innerhalb weniger Stunden nach dem Absturz. Welche Rote Flaggen sind Ihnen aufgefallen, als diese Darstellung so schnell konstruiert und an die Medien weitergegeben wurde?

Sam Thorne: Vielen Dank für die Einführung des Begriffs „Rote Flagge“ – ich werde ihn weiterhin verwenden, da er meine eigene Sichtweise auf diesen Fall treffend wiedergibt.

Rote Flagge Nr. 1: Schnelligkeit ist der Feind jeder gründlichen Untersuchung. Innerhalb weniger Stunden informierte die französische Staatsanwaltschaft die Medien bereits über eine vermutete Ursache – noch bevor der Flugdatenschreiber in den Trümmern gefunden worden war und lange bevor der Cockpit-Voice-Recorder vollständig analysiert worden war. Das ist beispiellos. Die Untersuchung von Flugzeugunglücken dauert in der Regel Monate – manchmal sogar Jahre –, bevor ursächliche Schlussfolgerungen bekannt gegeben werden. Die Eile deutete darauf hin, dass es eine Agenda gab: die Kontrolle über die Darstellung zu übernehmen, bevor unbequeme Fakten ans Licht kommen konnten. Sie prägte auch die weltweite Wahrnehmung, lange bevor technische Beweise für sich sprechen konnten – ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie Framing mächtiger werden kann als Fakten oder, mit anderen Worten, wie voreingenommene öffentliche Darstellungen den Verlauf einer Untersuchung und die Interpretation von Beweisen beeinflussen können.

Heute jedoch leben wir in einer Zeit, in der Narrative oft wichtiger sind als Fakten. Medien, Politik und Unternehmensinteressen sind eng miteinander verflochten, und sobald eine Geschichte erzählt wurde, wird sie oft zur Realität – unabhängig davon, ob alle Fakten sie stützen.

Ich selbst arbeite seit mehr als 25 Jahren als Journalist:in. In gewisser Weise gehöre ich noch zur „alten Schule“ – einer Generation, für die Journalismus viel unbequemer war, gerade weil mehr Fragen gestellt und mehr Dinge infrage gestellt wurden, und zwar in allen Bereichen, einschließlich der Politik. Ich habe gelernt, Akten sorgfältig zu lesen, zwischen den Zeilen zu lesen, Widersprüche zu erkennen und vor allem immer wieder Fragen zu stellen.

Rote Flagge Nr. 2: Solche Fragen wurden nicht gestellt – und diejenigen, die sie stellten, erhielten keine oder keine aussagekräftigen Antworten.

Aber: Man kann eine Katastrophe nicht verstehen, indem man mit dem Finger auf eine einzelne Person zeigt. Damit ignoriert man das komplexe System, in dem ein solches Ereignis stattfindet. Man muss den größeren Zusammenhang betrachten: Wartungspraktiken, Kontrollmechanismen, Versagen der Aufsichtsbehörden, wirtschaftlicher Druck und mögliches Fehlverhalten. Wenn sich eine solche Katastrophe in der Luftfahrt ereignet, ist sie fast immer das Ergebnis mehrerer miteinander interagierender Faktoren, die sie überhaupt erst möglich gemacht haben. Und genau darum geht es in diesem Fall.

Rote Flagge Nr. 3: Dies war eine der schwersten Flugkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland – und dennoch wurde die Untersuchung auf alarmierend oberflächliche Weise durchgeführt. Ebenso beunruhigend ist, dass die Medien keine eigenen unabhängigen Untersuchungen durchführten, sondern sich weitgehend mit den selektiven „Bruchstücken“ begnügten, die ihnen von den Behörden zugespielt wurden. Damit gaben sie ihre kritische Kontrollfunktion zu einem Zeitpunkt auf, als eine unabhängige Überprüfung am dringendsten erforderlich war.

 

 

4. Die Informationen aus dem Cockpit Voice Recorder (CVR) wurden an die New York Times weitergegeben, bevor die ordnungsgemäße Analyse abgeschlossen war. Wie hat diese vorzeitige Weitergabe die öffentliche Wahrnehmung beeinflusst und möglicherweise die Untersuchung beeinträchtigt?

Sam Thorne: Rote Flagge Nr. 4: Die vorzeitige Weitergabe sensibler CVR-Informationen an die Medien war eines der schädlichsten Ereignisse im gesamten Ermittlungsprozess. Die New York Times berichtete über Details aus den Cockpit-Aufzeichnungen – insbesondere über die Behauptung, dass der Kapitän absichtlich ausgesperrt worden sei –, obwohl die Daten noch nicht ordnungsgemäß analysiert, überprüft oder in einen Zusammenhang gebracht worden waren. Dies allein ist höchst ungewöhnlich und aus ermittlungstechnischer Sicht äußerst problematisch.

Die Folgen dieser Weitergabe waren gravierend. Durch die selektive Veröffentlichung emotional aufgeladener Elemente der Aufzeichnung wurde die öffentliche Wahrnehmung sofort und unwiderruflich geprägt. Die Darstellung einer vorsätzlichen Handlung des Copiloten wurde weltweit zementiert, noch bevor die Ermittler ihre Arbeit abgeschlossen hatten. Dies ist nicht nur eine Frage journalistischer Übergriffigkeit – es hatte direkte Auswirkungen auf den Verlauf und die Integrität der Ermittlungen. Sobald eine solche Darstellung die öffentliche Debatte dominiert, wird es selbst für erfahrene Fachleute äußerst schwierig, alternative Erklärungen mit der erforderlichen Objektivität in Betracht zu ziehen.

Rechtlich gesehen ist dies ein Paradebeispiel dafür, wie vorurteilsbehaftete öffentliche Narrative die Neutralität von Ermittlungen untergraben können. Zeugen und Experten werden unbewusst von Informationen beeinflusst, die sie in der Presse finden, was Aussagen verfälschen, die Interpretation von Beweisen beeinflussen und sogar technische Analysen verzerren kann. Darüber hinaus steht die frühzeitige Veröffentlichung von CVR-Inhalten in direktem Widerspruch zu den Grundsätzen des ICAO-Anhangs 13 und des europäischen Rechts, die die Verwendung und Verbreitung von Cockpit-Sprachdaten streng begrenzen, um genau solche voreingenommenen Effekte zu vermeiden.

Rote Flagge Nr. 5: Ebenso besorgniserregend ist die Frage, wer zu diesem frühen Zeitpunkt Zugang zu den Aufzeichnungen hatte – und wer die Veröffentlichung genehmigt hat. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts der New York Times hätte sich das CVR in der sicheren Verwahrung der Ermittlungsbehörde befinden müssen, und nur eine sehr kleine Anzahl von Personen hätte Zugang zu seinem Inhalt gehabt. Die Tatsache, dass wichtige Informationen dennoch ihren Weg in die Presse fanden, deutet entweder auf einen schwerwiegenden Verfahrensverstoß oder auf eine absichtliche Handlung hin, um eine bestimmte Darstellung im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.

Von diesem Moment an war die Theorie des „Piloten-Selbstmords“ nicht mehr nur eine Arbeitshypothese – sie war zu einer feststehenden „Wahrheit“ in der öffentlichen Meinung geworden. Dies wiederum setzte Ermittler, Staatsanwälte und Politiker unter enormen Druck, ihre Schlussfolgerungen an dieser voreilig aufgestellten Darstellung auszurichten, anstatt zu riskieren, ihr später zu widersprechen.

 

 

5. Sie haben über technische Anomalien geschrieben, die nicht mit der offiziellen Darstellung übereinstimmen. Können Sie die Bedeutung des Notzugangssystems zur Cockpit-Tür erklären und warum das Fehlen bestimmter Geräusche auf dem CVR beunruhigend ist?

Sam Thorne: Rote Flagge Nr. 6: Eine der auffälligsten Anomalien betrifft das verstärkte Cockpittürsystem selbst – eine Sicherheitsvorrichtung, die nach den Anschlägen vom 11. September weltweit eingeführt wurde. Diese verstärkten Türen wurden in allen Verkehrsflugzeugen mit mehr als 50 Sitzplätzen nachgerüstet und sollen den unrechtmäßigen Zugang zum Cockpit verhindern. Das Grundprinzip ist einfach: Sobald das Flugzeug und seine Systeme mit Strom versorgt werden, verriegelt sich die Tür automatisch.

Wenn jemand von außerhalb des Cockpits eintreten möchte, muss er einen Code auf der Tastatur neben der Tür eingeben. Dadurch wird ein kurzer Signalton ausgelöst – ein weniger als eine Sekunde dauernder Ton –, um die Piloten im Inneren zu alarmieren. Um den Zugang zu gewähren, müssen die Piloten dann manuell einen Schalter im Cockpit umlegen, wodurch der Verriegelungskreis der Tür unterbrochen wird und sie sich öffnen lässt.

Darüber hinaus ist die Cockpit-Tür mit einer Notzugangs-Überbrückung ausgestattet, die genau dafür entwickelt wurde, zu verhindern, dass Piloten ausgesperrt werden. Durch Eingabe eines Notfallcodes auf demselben Tastenfeld kann die Person vor dem Cockpit einen kontinuierlichen akustischen Alarm auslösen – der sich vom kurzen Standard-Signalton unterscheidet – und den Piloten signalisiert, dass ein Notfallzugang angefordert wird. Wenn dieses Verfahren befolgt wird, wird die Tür nach einer vordefinierten Zeit automatisch entriegelt, es sei denn, der Pilot im Cockpit schaltet das System aktiv in die Verriegelungsposition. In diesem Fall wird der Daueralarm sofort unterbrochen, sobald die Verriegelung aktiviert wird.

Laut der offiziellen CVR-Aufzeichnung wurde jedoch nur ein einziger kurzer Signalton aufgezeichnet, als der Kapitän versuchte, ins Cockpit zurückzukehren. Es gibt keine hörbaren Geräusche, die darauf hindeuten, dass der Copilot die Türverriegelung von innen aktiviert hat. Noch auffälliger ist das völlige Fehlen jeglicher nachfolgender Versuche des Kapitäns, den Notfallcode zu verwenden – der, wenn er eingegeben worden wäre, den Dauerton ausgelöst hätte.

Das Sicherheitssystem der Tür umfasst mehrere Maßnahmen, die hörbare Spuren in der CVR-Aufzeichnung hinterlassen sollten: akustische Signale, Warnungen, mechanische Geräusche – doch nichts davon ist zu hören. Wenn das Notfallsystem aktiviert wurde, warum hören wir es dann nicht? Wenn es nicht aktiviert wurde, warum nicht?

Diese fehlenden Elemente werfen ernsthafte und ungelöste Fragen darüber auf, ob das Türsystem wie vorgesehen funktioniert hat – oder ob die CVR-Aufzeichnung selbst unvollständig ist oder möglicherweise manipuliert wurde. Beide Möglichkeiten stellen die Glaubwürdigkeit der offiziellen Version der Ereignisse grundlegend infrage.

 

 

6. Der Copilot wurde schnell als depressiv und selbstmordgefährdet dargestellt, doch seine medizinischen Unterlagen und die Aussagen von Menschen aus seinem Umfeld zeichnen ein anderes Bild. Welche Diskrepanzen haben Sie zwischen der Darstellung in den Medien und den tatsächlichen Beweisen festgestellt?

Sam Thorne: Rote Flagge Nr. 7: Die Darstellung des Copiloten war eindimensional und sensationslüstern. Betrachten wir den Begriff „Depression“, der im Mittelpunkt der öffentlichen Darstellung stand – und weitgehend missverstanden wurde. Es gibt im Wesentlichen zwei Hauptformen der Depression: die endogene Depression, die sich innerlich entwickelt und nicht durch äußere Umstände erklärt werden kann, und die reaktive (oder psychogene) Depression, die durch Lebensereignisse oder äußere Stressfaktoren ausgelöst wird.

Der Copilot war Jahre zuvor, zu Beginn seiner Pilotenausbildung, wegen einer reaktiven Depression behandelt worden. Eine genauere Betrachtung der medizinischen Unterlagen – einschließlich der ärztlichen Berichte – zeigt, dass Begriffe wie „Burnout“, „Überlastung“ und „Schwierigkeiten bei der Anpassung an ungewohnte Lebensbedingungen“ ebenfalls verwendet wurden, um seine damalige Situation zu beschreiben. Er suchte professionelle Hilfe, erhielt eine angemessene Behandlung und erholte sich. Anschließend wurde er für flugtauglich erklärt, schloss seine Ausbildung mit Bravour ab und wurde danach weiterhin engmaschig überwacht.

Es gibt keinerlei glaubwürdige Hinweise auf Selbstmordabsichten: keinen Abschiedsbrief, keine auffälligen Verhaltensweisen und keine Berichte über eine Verschlechterung seines psychischen Zustands – weder von seinen Angehörigen noch von den Piloten, die unmittelbar vor dem Unfall mit ihm geflogen sind.

Im Gegenteil, die Beweise deuten in die entgegengesetzte Richtung. Nur wenige Tage vor dem Absturz sollen er und seine Partnerin in Anwesenheit von Zeugen über Heiratspläne gesprochen haben. Sollen wir ernsthaft glauben, dass jemand, der am Freitag Hochzeitspläne schmiedet, am Dienstag Selbstmord begeht? Die beiden Szenarien passen einfach nicht zusammen.

Die Medien – insbesondere die Boulevardpresse – gingen noch weiter und erfanden Geschichten über eine angebliche Freundin, der er seine „zukünftige Tat“ angedeutet habe. Nichts davon wird durch Beweise gestützt. Was jedoch gestützt wird, ist die Tatsache, dass der Copilot Symptome bemerkte, die sein Sehvermögen beeinträchtigten, was ihn verständlicherweise beunruhigte, und dass er sich einer fachärztlichen Untersuchung unterzog, um deren Ursache zu ermitteln. Wir werden später darauf zurückkommen; wichtig ist, dass dieses medizinische Problem – und nicht etwa Selbstmordgedanken – offenbar der Hauptgrund war, weshalb er in der Zeit vor dem Unfall Ärzte konsultierte.

 

 

7. Die Untersuchung schien sich ausschließlich auf den Selbstmord des Piloten zu konzentrieren und andere Möglichkeiten zu ignorieren. Welche anderen möglichen Ursachen oder Faktoren hätten untersucht werden müssen, wurden aber nicht untersucht?

Sam Thorne: Eine vollständige Liste aller relevanten Details würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Viele davon finden sich in meinem Buch Silent Skies und natürlich in dem bereits erwähnten Expertenbericht. Aber das Kernproblem ist:

Rote Flagge Nr. 8: Die Untersuchung basierte fast ausschließlich auf einer einzigen Hypothese – dass der Copilot den Absturz absichtlich verursacht habe –, während andere plausible Szenarien kaum oder gar nicht berücksichtigt wurden. Das ist ein grundlegender Fehler. Mehrere alternative Ursachen hätten gründlich untersucht werden müssen: eine technische Fehlfunktion des Cockpittür-Systems, eine Verunreinigung der Cockpit-Luft, mögliche Störungen der Avionik oder der Flugsteuerung und sogar externe Sicherheitsverletzungen. Keine dieser Möglichkeiten wurde wirklich gründlich geprüft.

Stattdessen haben die Ermittler die Beweise im Wesentlichen rückentwickelt, um sie an eine vorab festgelegte Erzählung anzupassen. So sollte weder eine strafrechtliche Untersuchung noch eine Flugunfalluntersuchung ablaufen. Das verstößt auch gegen die Kernprinzipien des ICAO-Anhangs 13, der ausdrücklich vorschreibt, dass alle plausiblen Szenarien untersucht und harte Beweise gefunden werden müssen, um jedes einzelne Szenario endgültig auszuschließen, bevor Schlussfolgerungen gezogen und der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Durch die Nichtbeachtung dieser grundlegenden Ermittlungsstandards hat die Untersuchung nicht nur ihren eigenen Umfang vorzeitig eingeschränkt, sondern auch der Öffentlichkeit – und den Familien der Opfer – eine umfassende und unvoreingenommene Erklärung dessen vorenthalten, was wirklich passiert ist.

 

 

8. Es gibt Fragen zu fehlenden oder manipulierten Beweisen, darunter ein Browserverlauf, der nicht mit den dokumentierten Therapiesitzungen übereinstimmt. Wie besorgniserregend sind diese Unstimmigkeiten in der offiziellen Untersuchung?

Sam Thorne: Hier haben wir Rote Flagge Nr. 9: äußerst besorgniserregend. Bei jeder ernsthaften Untersuchung würden solche Anomalien eine eingehendere forensische Prüfung nach sich ziehen. Hier wurden sie jedoch weitgehend beiseitegeschoben. Beispielsweise stimmen die Browsing-Daten, die als Beweis für Vorsatz vorgelegt wurden, nicht mit dem bekannten Zeitplan des Copiloten überein. Ein auffälliges Beispiel: Ein Buch, das ihm von einem Arzt empfohlen wurde, wurde bestellt und geliefert, bevor seine Konsultation bei diesem Arzt überhaupt stattfand. Lücken in den digitalen Beweisen fallen verdächtig mit Phasen hoher Ermittlungsempfindlichkeit zusammen. Solche Unstimmigkeiten lassen vermuten, dass bestimmte Daten ausgewählt wurden, um eine vorab festgelegte Schlussfolgerung zu stützen, anstatt im Rahmen einer unparteiischen und kohärenten forensischen Analyse entdeckt worden zu sein.

Warum sollte beispielsweise ein Pilot, der für die Lufthansa Group arbeitet, Informationen über die Cockpit-Tür im Internet suchen, wenn er über seinen Firmenlaptop uneingeschränkten Zugriff auf die umfangreiche Lufthansa-Airbus-Dokumentation mit allen technischen Spezifikationen hatte?

Und hier kommt das vielleicht erstaunlichste Detail: Das iPad, auf dem die angeblich belastenden Internetsuchen – die zur Untermauerung der Selbstmordtheorie herangezogen wurden – durchgeführt worden sein sollen, wurde bei der ersten Hausdurchsuchung von der Polizei gar nicht beschlagnahmt. Es wurde den Ermittlern erst einige Tage später übergeben – und wie sich herausstellte, war es nicht einmal das Gerät des Copiloten. Es gehörte seiner Partnerin.

Aus forensischer und rechtlicher Sicht ist dies ein äußerst beunruhigender Verfahrensverstoß. Jedes digitale Gerät, das als Beweismittel verwendet werden soll, muss zum Zeitpunkt der Durchsuchung unter Einhaltung der entsprechenden Protokolle zur Sicherstellung der Beweiskette gesichert werden, um seine Authentizität und Integrität zu gewährleisten. Die Tatsache, dass dieses Gerät nachträglich in die Ermittlungen einbezogen wurde – und dass es nicht dem Verdächtigen gehörte – stellt die Zuverlässigkeit der gesamten digitalen Beweismittel infrage.

 

 

9. Sie haben auch die Möglichkeit untersucht, dass kontaminierte Kabinenluft (Aerotoxisches Syndrom) die Leistungsfähigkeit der Besatzung beeinträchtigt hat. Warum wurde dieser Aspekt nicht ordnungsgemäß untersucht, insbesondere angesichts der Wartungsarbeiten, die kurz vor dem Absturz an dem Flugzeug durchgeführt wurden?

Sam Thorne: Rote Flagge Nr. 10: Es ist wichtig zu wissen, dass Germanwings zum Zeitpunkt des Absturzes die deutsche Fluggesellschaft mit der höchsten Anzahl gemeldeter Rauchentwicklungen in ihrer gesamten Flotte war. Und wie das Flugbuch des Copiloten zeigte, hatte er viele der Flugzeuge geflogen, die an diesen Vorfällen beteiligt waren – nicht unbedingt zum Zeitpunkt des Vorfalls, aber sowohl vor als auch nach solchen Ereignissen.

Um Ihre Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten: Warum wurde dieser Aspekt nicht untersucht? Vielleicht, weil er unbequem war?

Die Anerkennung der Möglichkeit einer aerotoxischen Belastung – selbst wenn sie nur ein beitragender Faktor gewesen wäre – hätte Flugzeughersteller, Fluggesellschaften, Wartungsunternehmen und Aufsichtsbehörden in Mitleidenschaft gezogen – ein potenzieller rechtlicher und haftungsrechtlicher Albtraum.

Dennoch gab es deutliche Anzeichen, die eine ernsthafte Untersuchung hätten auslösen müssen:

  • Die Dichtungs- und Reinigungsarbeiten am Triebwerk, die nicht wenige Tage vor dem Absturz durchgeführt, sondern aufgeschoben worden waren.
  • Die Tatsache, dass beide Triebwerke überfällig für eine Überholung waren.
  • Zahlreiche Berichte über Rauchentwicklung in Schwesterflugzeugen derselben Flotte.
  • Und – am wichtigsten – Symptome, die mit kognitiven Beeinträchtigungen vereinbar sind.

Letzteres ist besonders bedeutsam. Das Atemverhalten des Copiloten, das auf dem Cockpit-Voice-Recorder aufgezeichnet wurde, liegt weit über der normalen physiologischen Frequenz – ein Befund, der darauf hindeutet, dass er möglicherweise bewusstlos war und das Flugzeug nicht bewusst gesteuert hat. Diese Interpretation wurde sogar von der französischen Gendarmerie Aviation Unit bestätigt, die in ihren abschließenden Bemerkungen zur CVR-Analyse im Mai 2015 – nur zwei Monate, nachdem der Copilot von der Staatsanwaltschaft beschuldigt worden war – festhielt:

„Aufgrund der aufgezeichneten Atemgeräusche des Copiloten bis zum Aufprall wissen wir, dass er am Leben war. Wir wissen jedoch nicht, ob er bei Bewusstsein war.“

Heute wissen wir mehr. Durch mehrere erfolgreiche Gerichtsverfahren, die von französischen Piloten vor dem Obersten Gerichtshof angestrengt und gewonnen wurden – in denen kontaminierte Kabinenluft rechtlich als Berufskrankheit anerkannt wurde – und durch die in diesen Verfahren vorgelegten medizinischen und wissenschaftlichen Gutachten ist klar geworden, dass die vom Copiloten beklagten Augensymptome tatsächlich eine direkte Folge der Exposition gegenüber kontaminierter Kabinenluft gewesen sein könnten.

Meiner Meinung nach war es daher kein Versehen, den Aspekt der aerotoxischen Belastung in dieser Untersuchung zu ignorieren – es war eine bewusste Entscheidung.

 

 

10. Berichten zufolge befanden sich unter den Passagieren Personen, die nicht die waren, für die sie sich ausgaben. Welche Fragen wirft dies in Bezug auf den Flug auf, die nie angemessen beantwortet wurden?

Sam Thorne: Zunächst müssen wir ein weit verbreitetes Missverständnis ausräumen: Es gibt keine gesicherten Beweise dafür, dass Passagiere im rechtlichen Sinne unter falscher Identität gereist sind. Die wahre Identität bestimmter Personen an Bord ist jedoch bemerkenswert genug, um die nächste rote Flagge zu hissen – denn sie wirft Fragen auf, die bis heute nie richtig untersucht wurden.

Rote Flagge Nr. 11: Unter den Passagieren befand sich beispielsweise – wie uns gesagt wird, rein zufällig – eine ehemalige Vorgesetzte von Edward Snowden, die offiziell mit ihrer Tochter in den Urlaub nach Europa reiste. Dann gab es mehrere Männer aus Kasachstan, einer ehemaligen Sowjetrepublik, in der einst einige der bedeutendsten Kernwaffenforschungsprojekte der Region durchgeführt wurden. Hinzu kamen zwei iranische Journalisten, die ihre Reise direkt von Düsseldorf über Wien nach Teheran fortsetzen wollten.

Erkennen Sie das Muster? Jedes dieser Details könnte ein reiner Zufall sein – und vielleicht ist es das auch. Dennoch ist das völlige Fehlen jeglicher sichtbarer polizeilicher Ermittlungen oder gründlicher Hintergrundüberprüfungen solcher potenziell sensiblen Passagierprofile gelinde gesagt auffällig. Das allein beweist noch nichts, wirft aber sicherlich Fragen auf, die hätten gestellt werden müssen – und nicht gestellt wurden.

 

 

11. Inwiefern hat die Struktur des französischen Rechtssystems, insbesondere die Beteiligung des Staates an Airbus, möglicherweise die Unabhängigkeit der Ermittlungen beeinträchtigt?

Sam Thorne: Rote Flagge Nr. 12: Das französische Rechtssystem legt die Kontrolle über die Untersuchung von Flugunfällen fest in die Hände des Staates – und der Staat selbst ist ein wichtiger Anteilseigner von Airbus. Das ist ein eingebauter Interessenkonflikt: Genau die Institutionen, die den Fall objektiv untersuchen sollen, haben auch ein starkes Interesse daran, eines der wichtigsten Unternehmen Frankreichs zu schützen. Und wir alle wissen, dass echte Unparteilichkeit oft eher ein Ideal als Realität ist, wenn das industrielle Flaggschiff einer Nation involviert ist.

Was viele Menschen nicht wissen, ist, dass Staatsanwälte in Frankreich nicht so unabhängig sind wie in einigen anderen Ländern. Sie arbeiten innerhalb einer strengen Befehlskette und müssen Anweisungen von oben befolgen. An der Spitze dieser Struktur steht der Justizminister, der die allgemeine Politik der Regierung zur Behandlung von Fällen festlegt und die Befugnis hat, Anweisungen zu erteilen. Unter dem Minister steht der Generalstaatsanwalt (procureur général), gefolgt von den lokalen Staatsanwälten (procureur de la République), die die Ermittlungen vor Ort beaufsichtigen. Ihnen unterstehen die stellvertretenden Staatsanwälte und Assistenten, die diese Anweisungen in die Praxis umsetzen.

Das bedeutet im Klartext, dass Staatsanwälte Teil der Exekutive sind. Sie handeln nicht völlig unabhängig, sondern als Teil des staatlichen Systems – und von ihnen wird erwartet, dass sie in sensiblen Fällen die Prioritäten der Regierung umsetzen.

Im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu Germanwings ist das von großer Bedeutung. Da der französische Staat ein direktes finanzielles Interesse an Airbus hatte, bestand ein reales Risiko – wenn auch nur indirekt –, dass politische oder wirtschaftliche Erwägungen die Durchführung der Ermittlungen beeinflussten. Das bedeutet nicht, dass jemand explizite Anweisungen gegeben hat, aber die Struktur selbst schafft eine Situation, in der die Unabhängigkeit fragwürdig ist und Entscheidungen möglicherweise nicht nur auf der Grundlage von Fakten getroffen werden.

 

 

12. Familien, die die offizielle Darstellung infrage stellten, wurden oft als leugnend abgetan. Wie hoch waren die menschlichen Kosten dieser voreiligen Urteilsfindung in diesem Fall, insbesondere für die Familie des Copiloten?

Sam Thorne: Die menschlichen Kosten waren immens. Den Familien der Opfer wurden vollständige und umfassende Antworten vorenthalten. Insbesondere die Familie des Copiloten wurde diffamiert – ihr Sohn wurde in Abwesenheit verurteilt, ohne Gerichtsverfahren, ohne die Möglichkeit einer sinnvollen Verteidigung und ohne den Schutz, der in jeder demokratischen Gesellschaft garantiert sein sollte.

Einige Journalist:innen gingen sogar so weit, in ihren Berichten Begriffe wie „Mord“ und „Massenmörder“ zu verwenden – ohne zu zögern und trotz der Tatsache, dass solche Begriffe in journalistischen Inhalten nur nach einem Gerichtsurteil verwendet werden sollten. Das ist nicht nur schlampiger Journalismus, sondern untergräbt eines der grundlegendsten Prinzipien unseres Rechtssystems: die Unschuldsvermutung. Dieser Grundsatz ist kein nebensächliches Verfahrensdetail – er ist ein Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit und ein Schutz für jeden Einzelnen vor willkürlicher Verurteilung durch den Staat oder die öffentliche Meinung.

Die Folgen reichen weit über die Familie des Copiloten hinaus. Die breite Öffentlichkeit – und jeder, der sein Vertrauen in die Sicherheitsmechanismen der kommerziellen Luftfahrt setzt – hat eine entscheidende Gelegenheit verpasst, aus potenziellen Systemfehlern zu lernen, die, wenn sie richtig angegangen würden, zukünftige Tragödien verhindern könnten. Eine Katastrophe dieses Ausmaßes auf einen einzigen „bösen Akteur“ zu reduzieren, mag emotional bequem sein, ist aber intellektuell faul, rechtlich problematisch und ethisch schädlich.

 

 

13. Ihre Arbeit deutet auf ein Muster hin, bei dem komplexe systemische Fehler auf individuelle Schuld reduziert werden. Wo außer bei Germanwings haben Sie diese Sündenbock-Dynamik in der Luftfahrt oder anderen Branchen noch beobachtet?

Sam Thorne: Es ist ein bekanntes Muster. Wir haben es nach den 737-MAX-Katastrophen, dem Verschwinden des Fluges MH370 und sogar kürzlich beim Absturz der Air India in Ahmedabad vor einigen Wochen gesehen. Aber wir haben es auch nach Industrieunfällen, im Bereich der Medizin und Gesundheitsversorgung und sogar bei Bankenkrisen gesehen: Einzelpersonen werden beschuldigt, während strukturelle Mängel unberührt bleiben. Es ist einfacher – und billiger –, den Ruf einer Person zu opfern, als sich der unangenehmen Realität zu stellen, dass unsere Systeme von Grund auf instabil sind. Bei der Sündenbock-Strategie geht es nicht nur um Schuld – es ist eine Strategie zum Schutz von Macht und Profit.

 

 

14. Was glauben Sie angesichts all Ihrer Erkenntnisse, was tatsächlich mit Flug 9525 passiert ist, und warum war es Ihrer Meinung nach so schwierig, die Wahrheit herauszufinden?

Sam Thorne: Ich glaube, dass Flug 9525 das Ergebnis mehrerer Fehler war – technischer, verfahrenstechnischer, möglicherweise sogar krimineller Fehler –, die auf eine Weise zusammenkamen, die die Behörden niemals aufdecken wollten. Ob es sich um eine vorsätzliche Manipulation handelte, bleibt offen. Aber es ist klar, dass die offizielle Darstellung nicht alle Beweise berücksichtigt und dass die in den verfügbaren Akten gesammelten Beweise nicht das bestätigen, was uns erzählt wurde. Die Wahrheit ist schwer zu fassen, weil ihre Enthüllung mächtige Interessen berühren würde – und weil, sobald ein Narrativ festgeschrieben ist, die Trägheit der Institutionen jeder Infragestellung widersteht.

Ein weiteres Hindernis ist, dass sich ein Großteil unserer Mainstream-Medien fest zu dieser Version der Ereignisse bekannt hat. Eine Korrektur würde heute bedeuten, nicht nur zuzugeben, dass sie damals nicht die Wahrheit berichtet haben, sondern auch, dass sie die offizielle Darstellung oder die ihnen zugespielten Aussagen nicht kritisch hinterfragt haben. Das würde nichts weniger als eine Kehrtwende um 180 Grad erfordern. Aber ich bezweifle, dass sie den Mut und die menschliche Integrität besitzen, die für einen solchen Schritt erforderlich sind.

 

 

15. Worauf konzentrieren Sie sich derzeit in Bezug auf diesen Fall, und wie können Leser, die mehr über die Diskrepanzen zwischen der offiziellen Darstellung und den Beweisen erfahren möchten, mit Ihrer Arbeit in Verbindung bleiben?

Sam Thorne: Die Geschichte lehrt uns, dass Zeit ein entscheidender Faktor ist – insbesondere, wenn es darum geht, die Wahrheit aufzudecken. Ich untersuche weiterhin unveröffentlichte technische Daten, Rechtsdokumente und Zeugenaussagen, die neues Licht auf die tatsächlichen Geschehnisse werfen könnten. Die Geschichte des Fluges 9525 ist also noch nicht zu Ende. Sie entwickelt sich weiter.

Allen, die sich diesem Thema auf „verdaulichere“ Weise nähern möchten, empfehle ich wärmstens, mein Buch Silent Skies zu lesen und es einfach mit der nach wie vor vorherrschenden „offiziellen Darstellung“ zu vergleichen. Das Buch ist in Englisch, Deutsch und Französisch erhältlich – sowohl als Print-on-Demand-Ausgabe als auch als E-Book. Darüber hinaus kann ich zum jetzigen Zeitpunkt öffentlich nicht viel mehr hinzufügen.

Ich habe bereits mit der Arbeit an einer Fortsetzung zu Silent Skies begonnen, und in diesem nächsten Buch wird es mir viel leichter fallen, all diese zusätzlichen Aspekte auf eine Weise darzustellen, die verständlich, nachvollziehbar und spannend ist – und dabei dennoch fest auf Fakten basiert.

Die Wahrheit ist nichts Feststehendes. Sie ist etwas, für das man kämpfen muss – sie muss immer wieder geprüft, hinterfragt und neu untersucht werden. Und der Ansatz muss auf wissenschaftlichen Methoden basieren, denn Wissenschaft ist im Kern nichts anderes als die Suche nach der Wahrheit. Das gilt nicht nur für Ermittler oder Rechtsexperten, sondern insbesondere auch für meine jüngeren Kolleg:innen in den Medien: Journalismus sollte Fragen aufwerfen – auch wenn schon das Stellen bestimmter Fragen an sich unangenehm ist.

Für mich ist das das Tolle am Schreiben eines Romans: Literatur muss nicht bequem sein. Mein Ziel ist einfach: Ich möchte mich weiterhin für Transparenz und Verantwortlichkeit einsetzen – denn die Wahrheit ist wichtig, auch wenn sie unbequem ist.

 

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